Was vor 75 Jahren wichtig war
Main-Echo Pressespiegel

Was vor 75 Jahren wichtig war

Heiligabend 1945: Fünf Zeitzeugen aus Alzenau und Schöllkrippen erinnern sich an die erste Nachkriegsweihnacht mit ihren Entbehrungen und Hoffnungen
ALZENAU/SCHÖLLKRIPPEN 

Nasskalt und grau war der Heiligabend des Jahres 1945. Ein Montag in einem eher milden Monat. 75 Jahre ist die erste Nachkriegsweihnacht her, die punktuell Parallelen mit dem bevorstehenden Fest aufweist. Damals wie heute sind die Feiertage stark verbunden mit der Ungewissheit: Wie geht es weiter - was mag die Zukunft bringen?

Gespräche mit Zeitzeugen lassen allerdings auch rasch die gewaltigen Unterschiede offenbar werden. Unsere Probleme heute schrumpfen angesichts dessen, was in Folge des Krieges zu erdulden war.

Im Alzenauer BRK-Seniorenheim lebt Günter Möbius. Er ist als Zeitzeuge äußerst interessant. Denn er hat aufgeschrieben, was ihm von seiner Jugendzeit bis zu seiner Verlobung wichtig erschien. Seine Aufzeichnungen beginnen mit dem Satz: »Mein Name ist Hans Günter Möbius und ich wurde am 16. Dezember 1926 in Leipzig geboren.« Weihnachten 1945 erlebte (oder besser: überlebte) er in einem französischen Kriegsgefangenenlager bei Reims. Die Zeit dort verbindet er mit einem Begriff: »Hunger«.

Historiker haben das Geschehen analysiert. Frankreich war 1945 mit der Masse an Gefangenen überfordert, konnte nicht einmal die eigene Bevölkerung zufriedenstellend versorgen. Möbius formuliert es so: Gab es einmal Brot, »war es fast ein Gottesdienst«. Manche hätten eine Stunde auf dem Wenigen gekaut. Weihnachten 1945 bringt er mit einem »Geschenk« in Verbindung: »Es gab für jeden ein Stückchen Butter.«

1944 in Nord-Norwegen

Dank seiner Aufzeichnungen ist auch gut dokumentiert, wie er ein Jahr zuvor Heiligabend als Soldat erlebte. Möbius war 1944 in Nord-Norwegen an der Grenze zu Schweden stationiert. Man hielt es für möglich, dass die Russen, das neutrale Schweden durchquerend, die Deutschen in Norwegen angreifen. Heiligabend gab es »einen gewaltigen Schneesturm, wie ich ihn noch nicht erlebt hatte«, schreibt Möbius, dem damals »auf Feldwache« der ganze Irrsinn des Krieges klar wurde: Er und drei (!) weitere Soldaten hatten (»mit einem einzigen Maschinengewehr«) den Auftrag, auf einer Grenzlänge von zehn Kilometern den Feind aufzuhalten, falls der kommen sollte - sowie desertierende deutsche Soldaten am Grenzübertritt zu hindern. Der Irrsinn solcher Befehle bestärkte ihn in seiner kritischen Haltung. »Ich habe Feindsender gehört und wusste, was los war«, sagt Möbius, der Jahre später eine Familie gründete und in Gelsenkirchen-Schalke eine Tankstelle betrieb.

Karl Rack aus Schöllkrippen war zu Kriegsende ein neunjähriger Bub. Man sei halt Kind gewesen, erinnert er sich, »neugierig und furchtlos«. Bis auf zwei, drei Artillerietreffer sei Schöllkrippen verschont geblieben. Man habe die Amerikaner begrüßt und die schwarzen Soldaten um Kaugummi angebettelt. Das Sammeln von Granatsplittern, von Zigarren- und Zigarettenresten und von Kaffeesatz sei Zeitvertreib gewesen. »Die Gefahren waren uns nicht bewusst.« Rack weiß von einem Mömbriser, der als Bub beim »Spiel« mit einer Patrone ein Augenlicht verlor. »Ich selbst hatte einmal eine Handgranate in den Händen und wusste nicht, dass es eine war.«

Die erste Nachkriegsweihnacht sei bei Racks nicht von Armut geprägt gewesen. Die Familie war vollständig. Der Vater war im Krieg nicht als Soldat, sondern als Milchfahrer im Einsatz gewesen. Ein eigener Garten hatte für einige Vorräte die Grundlage geschaffen. Das Weihnachtsgeschenk, so Karl Rack, war ein kleiner Leiterwagen aus Holz, den sein Opa, ein Schreiner, gefertigt hatte.

Große Hilfsbereitschaft

Henning Kaul (80), der in Hörstein wohnt, zählt folgenden Abschnitt zu seiner Lebensgeschichte: »Auf der Suche nach einer neuen Bleibe aus dem zerbombten Berlin hat meine Mutter mit uns sechs Kindern 1945, der Vater war in amerikanischer Gefangenschaft, in Bayerisch Eisenstein, eine Tausend-Einwohner-Gemeinde an der tschechischen Grenze, eine neue Bleibe im örtlichen Sägewerk gefunden.«

Die evangelische Familie erlebte die »große Hilfsbereitschaft des katholischen Pfarrers und seiner Gemeinde« in der schwierigen neuen Lebenssituation und in einer Zeit, in der »alle unter dem allgemeinen Mangel leiden mussten«. Es war der Pfarrer, der »uns Evangelische« für Heiligabend 1945 zur mitternächtlichen Messe eingeladen hatte. »Ich erinnere mich an dieses erste Nachkriegs-Weihnachten, weil wir bis Mitternacht aufbleiben durften und ohne Verdunkelungsauflagen zur Kirche durch den tiefen Schnee, mit einer Laterne in der Hand, dem Klang der Glocken gefolgt sind.«

Die erste Weihnacht im tief verschneiten Bayerischen Wald und die Hilfsbereitschaft der Eisensteiner sei prägend gewesen. »Wir sind schnell auch Eisensteiner geworden.« Die Besuche der Christmetten hat die Familie in den folgenden Jahren beibehalten.

»Es gab keine Geschenke«

Der Alzenauer Malermeister Norbert Trageser (89) stand vor fünf Jahren unserer Redaktion zum selben Thema Rede und Antwort. Er empfand Weihnachten 1945, das er mit seiner Schwester und seiner Mutter in Alzenau erlebte, als Fest der Ungewissheit: »Wir haben nicht gewusst, wo unser Vater ist.« Zum Thema Weihnachtsessen konnte er sich nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit erinnern. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit habe ein Hase aus dem heimischen Stall das Fest nicht überlebt.

Wo sein Vater war, klärte sich nur wenige Tage später, als eine Nachricht aus einem Kriegsgefangenenlager in Belgien eintraf. Er kehrte 1947 nach Alzenau zurück.

»Ganz ärmlich« war Weihnachten 1945, erzählt die Alzenauerin Rita Wappes, die damals ein zehnjähriges Mädchen war. Sie kann sich vor allem an die räumliche Enge erinnern. »Im Haus waren drei Parteien untergebracht.« Zu Weihnachten sei alles mit einem Satz gesagt: »Es gab nichts - auch keine Geschenke.«

23.12.2020
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